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Wir erwarten den 9000. SchĂĽler in 2020
Russische SchĂĽler zu Gast in deutschen Familien
Kultur- und Wehmutsschock
1994 - 2020
Meine nicht besonders gut erzogenen Kinder waren ein halbes Jahr zu Gast in einer amerikanischen Familie. Deren Bereitschaft, ohne viel Aufhebens sich mit meinen Kindern zu plagen, Zeit und Geld zu
investieren, hat mich beeindruckt. Zu meinem Seelenfrieden gehört, dass meine innere Bilanz – das Geben und Nehmen – stimmen muss. Jetzt stimmte sie nicht mehr.
Aufgewachsen im GefĂĽhl, dass Tod, Schuld und Schicksal mit Russland in besonderem MaĂźe verwoben sind, hatte Russland, oder genauer gesagt die Sowjetunion, immer etwas Bedrohliches. Im August 1994, der
letzte – jetzt russische – Soldat hatte Deutschland verlassen, reifte die Idee, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Da die amerikanischen Gastgeschwister nicht kommen wollen, versuche ich es halt mit russischen.
Wer könnte helfen? Goethe Institut Moskau? Vielleicht gibt es das? Es gab es, und bereits beim ersten Anruf geriet ich an Frau Voigt. Sie selbst hatte als Schülerin ein prägendes Jahr in einer amerikanischen
Gastfamilie verbracht. „Sie brauchen mich nicht weiter überzeugen, genau das, was Sie machen wollen fehlt uns. Ich besorge die Schüler und Sie die Familien.“ Nun stand ich im Wort.
Bereits vier Wochen später lagen 20 Bewerbungen von 16jährigen Schülern vor, die seit der zweiten Klasse Grundschule Deutsch lernten. Das Mädchen, das am frechsten dreinschaute, nahmen wir. Vier
brachte ich im Freundeskreis unter, fünfzehn Gasteltern galt es zu mobilisieren. Da um mich herum die Kinder scharenweise nach Amerika geschickt werden – für ein Jahr – dachte ich, es werde kein Problem sein,
freundliche Gastfamilien für drei Monate zu finden. Pro Champagnerparty - findet doch dort der „Aufstand der Anständigen“ statt - zwei Familien, war mein Vorsatz. Ein Irrtum – die Gegenargumente ließen mich
schlucken. Wir haben so viele Verpflichtungen, wir laufen immer nackt durch die Wohnung, den Kulturschock wollen wir niemandem zufügen. Oder ganz unverhohlen: Wir sind doch nicht so blöd wie die Amis. Rot begann
ich zu sehen, wenn anklang, dass die amerikanischen Gastfamilien durch ihre Zöglinge sozial aufgewertet worden wären, und dies wäre in meinem russischen Fall natürlich nicht so. Sie hatten schlicht Angst, in
ihrer SpieĂźigkeit enttarnt zu werden und sorgten sich um ihre Bequemlichkeit. Ich griff in die Tasche, bezahlte Anzeigen und fand meinen Glauben an das Gute im Menschen wieder. Es gibt sie, nette, humorvolle,
unkomplizierte Menschen, in allen Schichten, mit einem gerütteltem Maß an Herzensbildung. Faustregel – je mehr Kinder, desto unkomplizierter.
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Und dann plötzlich standen sie auf dem Flughafen Schönefeld. 20 verschüchterte Großmachtkinder, die Kinder der Sieger, Befreier,
Besatzer, manche äußerlich sehr, manche weniger sympathisch, die alle, wahrscheinlich bis heute nicht verstehen können, warum deutsche Gasteltern so etwas machen, wo sie doch alles zum Leben haben, was
sie brauchen.
Frappierend war der Wissensstand in Deutsch und Naturwissenschaften, deprimierend der Wissensstand über Tschernobyl, Baltische Staaten, ökologische Probleme und ihre Meinung zur Stellung der Frau,
gegenĂĽber Randgruppen oder Minderheiten. Die Gleichsetzung von Kritik mit Ablehnung irritierte.
Der Stolz war schnell gekränkt, manchmal schon beim Hinweis auf Manieren und wurde mit regressivem Rückzug oder je nach Persönlichkeit mit forciertem Selbstbewusstsein und Ansprüchlichkeit zu
reparieren versucht.
Der RĂĽckzug fĂĽhrte bei den meist sehr aktiven Gasteltern, die doch die kostbare Zeit nicht unnĂĽtz verstreichen lassen wollten, zur Verzweiflung,
forciertes Selbstbewusstsein zur Verwirrung. Vielleicht doch Mafiakinder?
Wir leben in Schlaraffia und merken es nicht. Die SchĂĽler merken es und haben MĂĽhe, ihre geweckte AnsprĂĽchlichkeit zu zĂĽgeln, vor allem gegen
Ende ihres Aufenthaltes in dem Land, in dem Milch und Honig fließen – 9 Kilo mehr können dabei rauskommen.
Erwartet wird, dass sie unseren Konsum mit Bescheidenheit parieren, eine schwierige Aufgabe.
Den vielbeschworenen Kulturschock (Konsumschock) gibt es wirklich. Ausgelöst durch das Niveau der deutschen Schüler in Naturwissenschaften, durch ihre Arbeitshaltung, ihren Narkotikakonsum
und durch ihr Wissen über Russland, das sich auf Wodka und nebulös auf irgendwelche von den Russen begangenen Verbrechen beschränkt – die russische Literatur, ein Buch mit sieben Siegeln. Wer mir Puschkin
nicht nur Wodka assoziiert – eine Lichtgestalt.
Viel bedeutender ist der Wehmutsschock, der häufig durch die Attraktivität der Gasteltern und ihrem Lebensstil ausgelöst wird. Eltern,
die nicht nur mit sich, sondern auch mit ihren Kindern partnerschaftlich umgehen, ihnen Taschengeld geben, die sich fĂĽr deren Freunde interessieren, mit ihren Kindern viel unternehmen, die viel arbeiten -
dabei gut verdienen und regelmäßig ihr Gehalt in der Lohntüte finden - und aktiv ihre Freizeit genießen. Verstärkt werden solche Gefühle und
Phantasien – warum sind meine Gasteltern nicht meine wirklichen Eltern – durch die rivalisierenden Kinder der Gasteltern, die jetzt betonen
müssen, dass alles doch so selbstverständlich sei, zugleich aber für sich den Eigentumsbegriff neu entdecken. Auch meinen Kindern, in Amerika von ihren Gastgeschwistern drangsaliert, kam plötzlich ihre partielle
Bescheidenheit und sonst vorhandenen GroĂźzĂĽgigkeit abhanden.
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Die ersten 20 GastschĂĽler dienten als Versuchsballon, die Erfahrung mit ihnen fĂĽhrten zu Auswahlkriterien, VorbereitungsmaĂźnahmen,
Verhaltensregeln, Verhaltensempfehlungen für die Gasteltern – Klarheit, Klarheit, Klarheit – und zur Wunder wirkenden Wohlverhaltenskaution von
50 € (wer sich wohl verhält, bekommt sie zurück, wer der Gastmutter die Dessous stibitzt – in diesem Fall der Frau Pastor, mit dem Gastvater im
Liebeswahn durchbrennt, oder schlicht den Dankesbrief vergisst – nicht).
Die zukünftigen Auswahlkriterien schälten sich schnell heraus. Neugierig, ambivalenzfähig, Interesse an anderen, altersadäquates Selbstbewusstsein, keine Verwechslung von Unterwerfung mit
Anpassung und dem Willen sich durchzubeiĂźen.
Was nützen Kriterien, wenn die „Besten“ zum Wettbewerb nicht zugelassen werden. Hier halfen Transparenz und Demokratie. Immer mehr Ehemalige nehmen zusammen mit den Lehrern der teilnehmenden
Schulen an der Vorauswahl teil, stellen gemeinsam eine Rangliste auf, an deren Ende, wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, sich immer die jüdischen Schüler – am Namen oft erkennbar –befinden. Die Ehemaligen
schicken auch Quereinsteiger ins Rennen, nicht unbedingt die Lieblinge der Lehrer, eher meine, da sie mich an meine Schulkarriere erinnern.
Als mir der Anteil der mit sanftem Druck untergeschobenen dubiosen Lieblinge zuviel wurde, er ist der Sohn des BĂĽrgermeisters, helfen sie unserer Schule, lief ich mit den Kandidaten 3000 Meter, und wer
langsamer lief als ich, bekam keine Fahrkarte. Sport spielt in russischen Schulen eine untergeordnete Rolle, vor allem für Mädchen.
Die Dubiosen wurden sofort abgeschreckt. Es war ein merkwürdiges Spektakel. Viele Eltern strömten auf den Sportplatz, ausgerüstet mit
diversen Stärkungen für ihr Lieblinge. Die Schüler legten sich mächtig ins Zeug – die Schweiger hatten ihre große Stunde – und keine Hand rührte
sich zum Applaus, wenn sie dampfend vorbeizogen, anders wenn meine Wenigkeit vorbeihechelte – ich war irritiert. Vom 3000m-Eignungslauf kam ich wieder ab, weil es plötzlich fast nur noch Schüler gab, die
schneller liefen als ich. Jetzt besteht die Hürde aus einer Fahrradprüfung. Fahrradfahren ist in Russland unüblich, ist gefährlich, da Verkehrsschilder- und regeln mehr der Zierde als der Einhaltung dienen
– drei Mal traute die deutsche Autobahnpolizei ihren Augen nicht und beendete die beabsichtige Abkürzung. Zudem haftet dem Fahrrad etwas Proletarisches an. Die Änderung kommt mit unseren High-Tech-Rädern
und dem Pfauenoutfit .
Die SchĂĽler der ersten Stunde erfĂĽllten nicht alle die Erwartungen ihrer Gasteltern. Jetzt sind es gut 80%, die ihren Gasteltern mehr Freude als
Kummer bereiten. Die Neuen wissen von den alten, was verlangt wird und die Gasteltern wissen, dass Klarheit und nicht verquaste Toleranz den Weg zum GlĂĽck bedeuten. Die SchĂĽler im Jahr 2004 unterscheiden
sich erfreulich von ihren Vorläufern. Der allgemeine Wissensstand verbesserte sich. Tschernobyl ist kein böhmische Dorf mehr, in den Baltischen Staaten leben nicht nur geknechtete Russen, es gibt
ökologische Probleme – beinahe überall, und nur noch 70% sehen in den Tschetschenen nur Banditen. Kritik wird immer seltener mit Verleumdung verwechselt. Unser Interesse am Schicksal der Kursk wird immer noch
mehr als Einmischung, als Versuch, Russland bloĂźzustellen und weniger als echte Anteilnahme verstanden. Ambivalent ist unser Interesse bestimmt, man muss nur die Berichterstattungen ĂĽber die Kursk mit
Kaprun vergleichen. Durchbrüche in Kaufhäusern kommen nur noch selten vor. Die Abholungen aus der „Gefangenensammelstelle Lankwitz“ hatten für mich biederen Bürger etwas Aufregendes. Das „Hallo Doc“ der
OrdnungshĂĽter war immer heiter. Vom Habitus, ihren Interessen und von der coolen Art sich zu bewegen, sind die russischen SchĂĽler von ihren deutschen Altersgenossen kaum mehr zu unterscheiden. Ihre Eltern sind
sich auch nicht mehr ganz sicher, dass hinter dem Ganzen etwas sehr Böses stecken muss – Nächstenliebe ist ein Begriff mit vielen Siegeln. Davon abgebracht haben sie nicht nur die Erzählungen ihrer Kinder :
„Mein Gastvater arbeitet weniger als du, Papa, besitzt aber viel mehr, meine Gastomi fährt Fahrrad, Oma“, – sondern die etwa 20% Gasteltern, die zum Gegenbesuch nach Russland aufbrachen. Mitgenommen haben
die SchĂĽler aber auch unsere Zivilisationskrankheiten, z.B. die Magersucht.
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Was treibt die Gasteltern zu solchen Engagements?
Eine Mischung aus Herzensbildung, christlicher Einstellung, gesellschaftlicher Verantwortung, schicksalhafter Verstrickung und latenten SchuldgefĂĽhlen und die Verwirklichung der Vorstellung von der
deutsch-sowjetischen Freundschaft/Solidarität. Und wie sollte es auch anders sein, je größer die Arbeitslosigkeit einer Region, desto größer
die soziale Sensibilität und die Bereitschaft, sich mit einem Schüler zu plagen. Manchmal geht das Engagement zu weit. Der Blick ins Tagebuch kann unangenehme Wahrheiten enthalten: Hier spricht keiner
Deutsch, außer dem Fernseher. Schadensbegrenzung war nicht mehr möglich. Neuere Untersuchungen zeigen ganz deutlich, dass praktizierende Nächstenliebe die beste Gesundheitsvorsorge darstellt –
fünfmal besser als täglich eine Aspirintablette.
Seit dem Jahre 2000 wird die Auswahl und Vorbereitung der Schüler in mehreren Städten von deutschen Deutschlehrern übernommen – vor
allem in den Städten jenseits des Urals - die vom in Köln ansässigen Amt für das Auslandsschulwesen zur Unterstützung des Deutschunterrichts entsandt werden. Sie sind unabhängig, nicht
korruptionsanfällig und unser Programm ist eine ideale Ergänzung ihres Unterrichts.
3500 Schüler aus 30 Städten/Regionen verbrachten in den letzten vierzehn Jahren drei Monate in unserem kinderarmen Land, lebten in Familien, gingen hier zur Schule.
Für die meisten war der Aufenthalt ein prägendes Ereignis. Sie haben erfahren, wie wir arbeiten, denken und leben. Sie lernten am Modell,
wurden zu Sympathieträgern für unser Land und seine Produkte. Für beide Seiten ein schönes Ergebnis. Viele legen nach dem Aufenthalt das deutsche Sprachdiplom ab – bei den landesweiten
Deutscholympiaden belegen sie die ersten Plätze, ebenso bei den Bewerbungen für ein DAAD-Stipendium -, das als Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gilt, um hier studieren zu dürfen,
ungefähr 200 Ehemalige studieren oder studierten hier. Fast alle, die im letzten Jahrhundert hier waren, stehen jetzt im Berufsleben, oft auf karrierreverdächtigen Sprossen in Wirtschaft oder Verwaltung, drei
kenne ich, die sich selbständig gemacht haben.
Zahlreiche erprobte Gasteltern und zunehmend deutsche Deutschlehrer, die nach getaner Arbeit aus Russland zurĂĽckkehrten, arbeiten jetzt in
unserem Programm mit, fahren nach Russland, suchen Schüler aus – helfen beim Finden der Gasteltern. Daher konnten wir die Zahl der Schüler so erhöhen. Die Organisation solcher Horden geht nur mit Hilfe
der Chaostheorie, z.B. wenn 400 SchĂĽler in 7 Bussen am Sonntag morgen um 6 Uhr am ZOB in Berlin eintrudeln, aufgeregt erwartet von 600 Gasteltern.
Seit 2004 nehmen Schüler aus ganz Europa am Programm teil. Gasteltern, die 2 Schüler möchten, bekommen welche aus verschiedenen Ländern, so dass sie miteinander deutsch sprechen
müssen. Ressentiments und Vorurteile, wie zwischen Russen und Balten oder Russen und Georgiern, lösen sich auf. Für alle Seiten eine schöne Erfahrung. Gerne packen wir einen Schüler aus Kaliningrad/Königsberg
in eine deutsche Familie mit Vertreibungsschicksal – gelebte Versöhnung.
Zum vierten Mal bieten wir im Sommer ein vierwöchiges internationales Jugendcamp in Neuruppin an. Wir verbinden das Erlernen der deutschen
Sprache mit viel Sport, Kultur und SpaĂź. Die SchĂĽler lernen segeln, surfen, rudern, paddeln, tanzen, klettern, singen, Selbstverteidigung und Schauspiel. Das Programm wird unterstĂĽtzt von der Stadt Neuruppin,
dem Kreis, den örtlichen Sport- und Kulturvereinen, der Bundeswehr und dem THW.
Die Nachfrage nach unserem Programm ist groß. Dazu trägt unsere home-page bei, denn jetzt haben Schüler aus ganz Russland und Osteuropa Zugang zu den Informationen über unser Programm. Wir
könnten viel mehr unterbringen, wenn es mehr finanzielle und administrative Unterstützung gäbe, aber dazu fehlt der politische Wille. In unseren Kulturorganisationen fehlen Menschen mit Visionen und
Kreativität, außer Richtlinien und der Angst etwas falsch zu machen bewegen ihre Herzen herzlich wenig. Wir finanzieren uns seit 2005 über eine Bearbeitungsgebühr – für 2008 100 Euro - und über den Einbehalt
der Wohlverhaltenskaution, sofern nicht wohlverhalten, von 100 Euro. Schüler aus sozial schwachen Familien bezahlen nichts, außer der Wohlverhaltenskaution. Keiner von uns erhält für seine Arbeit eine müde Mark.
Amerikanische Organisationen laden pro Jahr 800 Schüler aus Russland kostenfrei – ausgesucht durch landesweite Wettbewerbe – für ein Jahr in
die USA ein, bringen sie in Internaten unter, schöpfen damit eine Elite ab, eine Investition, die sich auszahlen wird. 10.000 deutsche Schüler werden jedes Jahr von Gastfamilien in die USA eingeladen. Die
Organisationen nehmen im Schnitt 8000 € für die Vermittlung, die einladenden Familien erhalten kein Geld. Die Haltung der amerikanischen Familien ist bewundernswert. Selten dass aus dem
Kreis der Eingeladenen sich welche melden. Gleiches mit Gleichem zu vergelten kommt ihnen nicht in den Sinn. Eine kleine Ausnahme bilden die Amerikabesucher aus den neuen Bundesländern, dort blitzt ab und zu
noch Dankbarkeit auf.
P.S.: Die Robert Bosch Stiftung ĂĽbernahm fĂĽr sechs Jahre, bis 2003, 50% der Kosten. Weitere Sponsoren waren der Unternehmer Freiberger, die West-Ă–stliche-Stiftung, die DelbrĂĽcksche Stiftung, der
Notar Riewe und der Freundeskreis.
Im Jahre 2004 verlieh uns der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz.
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